Polio-Ausrottung: Deutschlands Dilemma auf der Zielgeraden
Die Welt steht kurz vor der Ausrottung von Polio. Deutsche Haushaltskürzungen werfen nun jedoch Fragen auf: Wie können diese Fortschritte aufrechterhalten werden?
Von Guillaume Grosso (Generaldirektor bei Global Citizen) und Zabeth Wagemann (Senior Policy Managerin bei Global Citizen)
Seit mehr als drei Jahrzehnten verfolgt die Welt eines der ehrgeizigsten Ziele in der Geschichte der öffentlichen Gesundheitsvorsorge: die Ausrottung der Kinderlähmung. Seit 1988 hat die Global Polio Eradication Initiative (GPEI) die weltweiten Fallzahlen um mehr als 99 Prozent gesenkt. Länder, die einst von der Krankheit heimgesucht wurden, gelten heute als poliofrei, und Millionen von Kindern blieben Lähmungen oder sogar der Tod erspart. Nach den Pocken könnte Polio die zweite Krankheit werden, die der Mensch jemals vollständig ausgerottet hat.
Doch gerade diese letzte Etappe bis zur vollständigen Eliminierung der Krankheit erweist sich als komplexer als alle vorherigen Phasen. Selbst wenn die weltweiten Fallzahlen historische Tiefststände erreichen, stellen neue Herausforderungen das Erreichte immer wieder auf die Probe. In mehreren Regionen sind Ausbrüche von Impfstoff-abgeleitetem Polio (VDPV) aufgetreten, darunter 2024 in Gaza, wo der Zusammenbruch grundlegender Gesundheitsversorgung Impfkampagnen unterbrochen hat. Umweltüberwachungen haben außerdem Virusspuren im Abwasser europäischer Städte wie Berlin, Hamburg, Köln und München nachgewiesen. Diese Befunde machen deutlich: Die Eradikation ist kein symbolisches Ziel, sondern ein wissenschaftliches und logistisches Wettrennen, das Beharrlichkeit, Anpassungsfähigkeit und politischen Willen erfordert.
Die Bemühungen zur Ausrottung hängen heute davon ab, Kinder in den entlegensten Gebieten zu erreichen, hochwertige Überwachungssysteme aufrechtzuerhalten und schnelle Reaktionskapazitäten bei neuen Ausbrüchen sicherzustellen. Jeder dieser Schritte erfordert Koordination, geschultes Personal und verlässliche Ressourcen. In dieser Endphase ist Nachlässigkeit so gefährlich wie das Virus selbst. Der Spielraum für Fehler ist geschrumpft, und selbst kurzfristige Finanzierungslücken können jahrzehntelange Fortschritte gefährden.
Deutschland hat bei diesem globalen Gesundheitserfolg eine führende Rolle gespielt. Seit 1988 hat Deutschland rund 854 Millionen Euro zur Polio-Eradikation beigetragen und damit geholfen, schätzungsweise mehr als 120 Millionen Kinder zu impfen und über 800.000 Lähmungsfälle zu verhindern. Mit der Strategie zur globalen Gesundheit (2020) hat sich die Bundesregierung zur langfristigen Ausrottung von Polio verpflichtet und diese als Eckpfeiler des deutschen Engagements in der globalen Gesundheit verankert. Bekräftigt wurde dieses Bekenntnis 2022, als Deutschland eine Geberkonferenz ausrichtete, die 2,6 Milliarden Euro für die Global Polio Eradication Initiative mobilisierte – verbunden mit einer Erhöhung der jährlichen deutschen Beiträge auf 37 Millionen Euro für 2023. Diese Schritte etablierten Deutschland als glaubwürdige Stimme für nachhaltige Investitionen in globale Gesundheit, die nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) und den Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen.
Vor diesem Hintergrund hat der jüngste Haushaltsentwurf, der eine Reduzierung der Beiträge auf 19,2 Millionen Euro im Jahr 2026 vorsieht und damit eine Kürzung um rund 36 Prozent gegenüber 2025 beziehungsweise 48 Prozent gegenüber 2024 bedeutet, in der Gesundheitsgemeinschaft Besorgnis ausgelöst. Die Kürzung erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem das Polio-Programm auf verlässliche und flexible Finanzmittel angewiesen ist, um Impfkampagnen und Überwachungsnetzwerke aufrechtzuerhalten. Innerhalb der GPEI haben Expertinnen und Experten gewarnt, dass finanzielle Unsicherheit die langfristige Planung beeinträchtigt, die Reaktionsfähigkeit bei Ausbrüchen verlangsamt und Hochrisikogebiete ungeschützt zurücklassen könnte.
Die Auswirkungen reichen über Polio hinaus. Das GPEI-Netzwerk unterstützt Labore, Überwachung und Schnellreaktionssysteme, die auch bei Ebola-, COVID-19- und Masernausbrüchen mobilisiert wurden. Es ist eines der kosteneffizientesten Beispiele dafür, wie gezielte Investitionen in globale Gesundheit breitere Vorteile für die Gesundheitssicherheit erzeugen. Ein Rückzug der Unterstützung in dieser Phase würde nicht nur die Ausrottung verzögern, sondern auch die globale Reaktionsfähigkeit schwächen und das Vertrauen in internationale Verpflichtungen beschädigen.
Deutschlands Entscheidung lädt auch zu einer umfassenderen Reflexion über die Position des Landes in der globalen Gesundheitsdiplomatie ein. Einst eine treibende Kraft bei der Gestaltung internationaler Prioritäten durch die G7, den World Health Summit und seine nationalen Strategien, sieht sich Deutschland nun mit Fragen konfrontiert, wie es innenpolitische Haushaltszwänge mit seinen internationalen Ambitionen in Einklang bringt. In einer sich rasch wandelnden globalen Landschaft, in der andere Akteure ihre Rolle ausbauen – Saudi-Arabien sagte 2024 500 Millionen US-Dollar zu, die Vereinigten Arabischen Emirate finanzierten nach dem Gaza-Ausbruch Notimpfkampagnen –, erfordert eine kontinuierliche Führungsrolle Konsistenz zwischen Politik und Praxis.
Gesundheitsdiplomatie beruht nicht nur auf hochrangigen Zusagen, sondern auf Verlässlichkeit dort, wo dauerhaftes Engagement gefordert ist. Die Wirksamkeit globaler Gesundheitsinitiativen hängt von kontinuierlichen Beiträgen der Partner ab, die diese Bemühungen über Jahrzehnte geprägt haben. Für Deutschland würde eine fortgesetzte Unterstützung der Polio-Eradikation seine Stellung als vertrauenswürdiger und strategischer Akteur in der globalen Gesundheitspolitik stärken und zugleich eine der bedeutendsten Errungenschaften internationaler Zusammenarbeit im Bereich der öffentlichen Gesundheit schützen.
Die Ausrottung von Polio bleibt erreichbar, doch die Endphase erfordert Beharrlichkeit und Entschlossenheit. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob die Akteure in der globalen Gesundheit langfristige Strategien in stetige Implementierung übersetzen können. Jetzt weiter zu investieren, würde demonstrieren: Gemeinsam können wir die globale Gesundheitssicherheit dauerhaft stärken – für uns und kommende Generationen.
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